Nach 7000 Jahren ohne Licht und Luft im Ostseeschlamm: Forschende erwecken prähistorische Alge wieder zum Leben

[...] Viele Lebewesen, angefangen bei Bakterien bis hin zu Säugetieren, können in eine Art „Schlafmodus“ übergehen, die sogenannte Dormanz, um Perioden ungünstiger Umweltbedingungen zu überleben. Dabei wechseln sie in einen Zustand reduzierter Stoffwechselaktivität und bilden dabei oft spezielle Dauerstadien mit stabilen Schutzhüllen und eingelagerten Energiereserven. Dies gilt auch für das Phytoplankton, mikroskopisch kleine Pflanzen, die im Wasser leben und Photosynthese betreiben. Ihre Dauerstadien sinken auf den Grund von Gewässern herab und werden dort im Lauf der Zeit von Sediment überlagert und unter Luftabschluss konserviert. 

„Solche Ablagerungen sind wie eine Zeitkapsel mit wertvollen Informationen über vergangene Ökosysteme mit ihren Lebensgemeinschaften, deren Populationsentwicklung und genetischen Veränderungen“, erläutert Sarah Bolius. Die IOW-Phytoplanktonexpertin ist Erstautorin der kürzlich im ISME Journal erschienenen Publikation zur Studie, bei der Sedimentkerne aus der Ostsee gezielt auf keimungsfähige Phytoplankton-Dauerstadien aus der Vergangenheit untersucht wurden. „Dieses Vorgehen trägt den ungewöhnlichen Namen ‚Auferstehungsökologie‘ – nach dem englischen Fachbegriff ‚Resurrection Ecology‘: Ruhestadien, die sich durch die klare Schichtung des Ostseesediments eindeutig bestimmten Perioden der Ostseegeschichte zuordnen lassen, sollen unter günstigen Bedingungen zu neuem Leben erweckt, genetisch und physiologisch charakterisiert und mit heutigen Phytoplanktonpopulationen verglichen werden“, so Bolius weiter. Durch Analyse anderer Sedimentbestandteile werden zusätzlich Rückschlüsse über frühere Salzgehalte, Sauerstoff- und Temperaturverhältnisse möglich. „Unser Ziel ist, durch Zusammenführung all dieser Informationen die genetischen wie funktionellen Anpassung des Ostsee-Phytoplanktons an Umweltveränderungen besser zu verstehen“, erklärt die Meeresforscherin den wissenschaftlichen Ansatz der Studie. 

Alte Gene, stabile Funktionen 

Das Team um Sarah Bolius, an dem neben IOW-Expert:innen auch Forschende der Universitäten Rostock und Konstanz beteiligt waren, untersuchte Sedimentkerne, die 2021 bei einer Expedition mit dem Forschungsschiff Elisabeth Mann Borgese aus 240 Metern Wassertiefe im Östlichen Gotlandtief gewonnen wurden. Aus neun Proben konnten nach Aufbereitung im Labor bei günstigen Nährstoff- und Lichtverhältnissen überlebensfähige Algen aus der Dormanz erweckt und einzelne Stämme isoliert werden. Diese Proben stammen aus verschiedenen Sedimentschichten, die eine Zeitspanne von rund 7000 Jahren und damit die wichtigsten Klimaphasen der Ostsee repräsentieren. 

Die Kieselalgenart Skeletonema marinoi war die einzige Phytoplanktonart, die aus allen Proben wieder erwachte. Sie ist in der Ostsee weit verbreitet und tritt typischerweise während der Frühjahrsblüte auf. Die älteste Probe mit lebensfähigen Zellen dieser Art wurde auf ein Alter von 6871 ± 140 Jahren datiert. [...]

Dormanz als Überlebensstrategie – und als Basis für ein spannendes Forschungstool 

Das Phänomen, dass Organismen als Dauerstadien über sehr lange Zeiträume hinweg überleben und damit potenziell Lebensräume bei passenden Bedingungen wiederbesiedeln können, ist auch aus anderen Studien bekannt – etwa bei Pflanzensamen oder Kleinkrebsen, die teils mehrere Jahrhunderte, ja auch Jahrtausende lebensfähig bleiben. Eine erfolgreiche Wiederbelebung eines Dauerstadiums nach so langer Zeit, wie im Fall von Skeletonema marinoi ist bislang jedoch kaum belegt. Mit rund 7000 Jahren gehören die winzigen Zellen dieser Kieselalge zu den ältesten Organismen, die aus einem intakten Dauerstadium erfolgreich wiederbelebt wurden. Aus Gewässersedimenten sind keine älteren derartigen Fälle bekannt. [...]

Zukunft verstehen durch Zeitreise in die Vergangenheit 

Durchgeführt wurde die aktuelle Studie im Rahmen des Verbundprojektes PHYTOARK, das im Rahmen der Förderlinie „Kooperative Exzellenz“ von der Leibniz-Gemeinschaft gefördert und am IOW durch Anke Kremp, Leiterin der Arbeitsgruppe Phytoplanktonökologie, koordiniert wird. Beteiligt sind neun weitere Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Finnland, Schweden und den USA. Ziel ist es, mit Hilfe neuester Methoden der Paläoökologie und Biodiversitätsforschung bis zu 8000 Jahre zurückzuschauen und durch natürliche Klimaschwankungen bedingte Veränderungen des Ostsee-Phytoplanktons zu rekonstruieren. Dieser Blick in die Vergangenheit soll helfen, zukünftige Klimawandelfolgen in der Ostsee besser abzuschätzen. Mehr Information: phytoark.com

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(PM IOW, gek.)

Weitere Informationen unter io-warnemuende.de

Originalpublikation:

Bolius, S., Schmidt, A., Kaiser, J. et al. (2025). Resurrection of a diatom after 7000 years from anoxic Baltic Sea sediment. The ISME Journal, 19(1), wrae252. DOI: 10.1093/ismejo/wrae252 Link


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